Sylvia Böhmer
Einführung zur Ausstellung “ In Betrachtung des Mondes“
Forum für Kunst und Kultur Herzogenrath am 16.11.2008
Gerlinde Zantis – In Betrachtung des Mondes – Zeichnungen
Gleich zu Beginn, nämlich mit dem Ausstellungstitel werden wir mit einer Irritation konfrontiert:
„In Betrachtung des Mondes“ – Wer betrachtet denn hier den Mond? In Gerlinde Zantis Bildern ist doch kein Mensch zu sehen. Und ist der Mond vorhanden? Hat uns die Dämmerung der Bilder bereits die Wahrnehmung verstellt?
Und noch die zweite Frage: sind das hier wirklich Zeichnungen?
Sowohl in Inhalt wie in Form bringt Gerlinde Zantis uns zunächst ins Grübeln.
Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so erscheint, ist Gerlinde Zantis Kunst ganz und gar auf die Gattung „Zeichnung“ bezogen. Farbstifte sind ihre einziges „Handwerkzeug“, das sie zur Gestaltung benutzt; Papier ist der alleinige Bildträger zur Umsetzung ihrer Konzepte. Von Skizzen in kleinerem Format und bis zu großen, für die Präsentation an der Wand gedachten Arbeiten reicht das Spektrum ihres Schaffen.
Nach Ausflügen in andere Medien, sei sie immer wieder zum Zeichnen zurückgekommen, sagt sie. Und auch, dass sie den Druck mit der Hand brauche, das Gefühl, den Stift auf das Papier zu drücken und ihn zu bewegen. Und doch sind in ihren Arbeiten kaum gezeichnete Linien zu erkennen.
Der über das Blatt bewegte Stift verwischt in den meisten Fällen seine Spur.
In den Werken, in denen neben der gezeichneten Linie auch Farbpigmente zum Einsatz kommen, d.h. in das Papier hinein gerieben und mit Spiritus verwischt werden, wirken die Arbeiten haptisch, stofflich, das zeichnerische grenzt an die Wirkung von Malerei.
Was dann entsteht, sind „Farbstaubbilder“ (Wolfgang Becker).
Der Eindruck des Plastischen wird verstärkt, wenn das Papier an eine raue Wand geheftet wird und sich beim Zeichnen in einer Art Frottage deren Untergrund dann durchdrückt.
„Bei mir geht alles über die Linie“, hat sie in unserem Gespräch gesagt. Und die Linie ist es ja, die jede Zeichnung definiert.
Die Ausformung der Linie ist der direkteste Ausdruck der Idee. Seit der Renaissance wurde ihr deshalb auch eine hohe Wertschätzung verliehen, die schließlich zur Anerkennung der Zeichnung als autonomes Kunstwerk und nicht nur als Entwurf für eine andere Gattung, führte. In ihr ist das gesamte kreative Vermögen eines Künstlers innewohnend. Man muss nur eine aus fünf Linien gestaltete Handzeichnung Rembrandts sehen, um das zu verstehen.
In Gerlinde Zantis Werk finden sich beide Anwendungsmöglichkeiten der Zeichnung, die Skizze als Vorbereitung sowie die große Zeichnung als eigenständiges Endprodukt.
Skizzen entstehen zuallersmeist vor Ort, können aber auch im Atelier aufgrund der fotografischen Erinnerung entstehen. Die Skizzen, meist in Reihung auf die Seiten ihrer Skizzenbücher gesetzt, halten die Kompositionsideen der Künstlerin fest. Und dann erfolgt die Auswahl. So kann ein großes Bild aus mehreren, verschiedenen Skizzen zusammengesetzt sein. Alle Freiheiten innerhalb des Gestaltungsvorganges sind möglich. So ist ein Bild wie D 27 II (Schneebild) „komplett erfunden“.
Dennoch ist es ihr immer wichtig, dass der Realitätsanspruch vorhanden ist.
Wenn man so realistisch arbeitet, wie sie es tut, muss jedes Detail in sich stimmig sein. Aber keinesfalls soll der Eindruck eines „fotorealistischen“ Bildes entstehen. Das wäre weit an ihrer Intention vorbeigezielt. Der Betrachter darf nicht beim ersten Blick ein großes Foto zu sehen glauben.
Was Gerlinde Zantis hier mit uns treibt, ist durchaus ein Spiel mit unserer Wahrnehmung. Aber Brüche in der Arbeitsweise und Irritationen des Betrachters sind ihr herzlich willkommen.
Damit sind wir bei der anderen, der eingangs gestellten Frage, nämlich, dass wir offensichtlich nicht sehen, was uns der Titel vorgibt. („In Betrachtung des Mondes“)
Ohne Frage, und auf den ersten Blick ersichtlich: Die Nacht und ihre Lichtquellen interessieren Gerlinde Zantis sehr. Es sind die Dämmerung, die noch Reste des Tageslichtes in sich birgt oder das Licht des aufziehenden Mondes.
Diese Situation des Übergangs, der schwindenden Helligkeit ist von der Stimmung her ein ganz besonderer Moment.
Aber er kann nur solange über das Auge der Künstlerin aufgenommen und vom Kopf in die stiftführende Hand umgesetzt werden, solange Licht vorhanden ist. Wenn Gerlinde Zantis in der Dämmerung arbeitet, bleibt ihr in den vielleicht zwei Stunden die Zeit für 5 oder 6 Skizzen. Je weiter die Dunkelheit fortschreitet, desto abstrakter werden diese Skizzen. Sie arbeitet solange in den Einbruch der Dunkelheit hinein, bis sie den Stift in der Hand nicht mehr sehen kann, es sei denn, es wäre gerade Vollmond.
Hier liegt auch der Grund verborgen, warum es sich bei den Arbeiten von Gerlinde Zantis gar nicht um fotorealistische Bilder handeln kann. Fotografien, aufgenommen mit lichtstarken Objektiven können die Realität der Nacht wiedergeben, aber sie vermögen nicht zu zeigen, was das menschliche Auge nachts zu sehen in der Lage ist. Ich glaube, dass ist eine Erfahrung, die jeder kennt, der Nachtaufnahmen macht.
Aber lassen wir uns nicht täuschen. Die großen Bilder, die Sie hier sehen, sind nicht bei Nacht entstanden. Auch kann die Entdeckung eines besonders reizvollen Landschaftsmotivs ebenso am Tag stattfinden. Ein Landschaftsmotiv, das sie speichert, um es dann in ihrer Vorstellung in ein Nachtstück zu transferieren. Eine Fähigkeit, der eine große Erfahrung mit den nächtlichen Erscheinungsbildern zugrunde liegen muss. Dabei können Details der Vorlage weggelassen oder verändert werden, Kompositionen werden durchgespielt. Diese Arbeitsweise eröffnet viele Möglichkeiten.
In alten Western aus den 1950er und 60er Jahren, bei denen noch mit Technicolor gearbeitet wurde, stand man vor der Frage, wie sollte man die Nachtaufnahmen machen? Der nächtliche Einsatz von Schauspielern und vor allem von Equipment wäre viel zu kostspielig gewesen. So fand man eine Lösung in dem Trick, tagsüber zu drehen und einen Filter vor die Kamera zu setzen, um Nacht zu suggerieren. Die Brillanz von Technicolor sorgte dafür, dass ein tagsüber hellblauer Himmel, „nachts“ dann immer dunkelblau erschien.
Gerlinde Zantis besitzt auch diesen Filter: in ihrem Kopf, in ihrem Erfahrungsschatz. Doch bei ihr ist die Dämmerung nun wirklich grau.
„Kein Sonnenschein, nie“, suggerieren diese Zeichnungen, obwohl die Künstlerin tagsüber häufig bei 30 °C und Sonnenschein gezeichnet hat.
Häufig arbeitet sie auch auf einem Autodach sitzend, um die Situation von oben aus zu sehen, aus dieser Platzierung eine neue Perspektive zu gewinnen.
Der Ausblick von oben auf die weite Landschaft begann literarisch mit Francesco Petracas Besteigung auf den Mont Ventoux im April 1336, und wurde in der deutschen Romantik zur Metapher eines religiös empfundenen Erlebnisses der Unendlichkeit und des Lichts. Bekanntestes Beispiel ist Caspar David Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“.
Obgleich die Bezüge zur Naturvorstellung der Romantik (künstlerisch-philosophische Richtung des 19. Jh.) bei Gerlinde Zantis nicht zu leugnen sind, ist die Erklärung für ihr Tun ungleich profaner: Direkt am Feldrand sitzend wäre alles viel zu flach und man würde bei einsetzender Dämmerung nichts mehr erkennen können, es sei denn, die Gräser, die direkt ins Blickfeld gelangen.
„In Betrachtung des Mondes“ ist eine Anspielung auf ein weiteres berühmtes Bild von Caspar David Friedrich: „Zwei Männer in Betrachtung des Mondes“, 1819 gemalt, zeigt diese als kleine Gestalten, eingebettet in eine von Felsformationen und knorrigen Bäumen gekennzeichnete Landschaft.
In den Zeichnungen von Gerlinde Zantis werden sie jemanden, der den Mond betrachtet, vergeblich suchen. Ihre Bilder sind immer menschenleer.
Und doch ist der Mensch anwesend in seiner Abwesenheit. Denn er hat Spuren hinterlassen: er hat den Acker abgeerntet und den Traktor gefahren, dessen Reifenprofil sich in die erde drückte, er hat den Zaun am Feldrand eingesetzt und die Schafshütten gebaut.
Neuerdings finden sich in Gerlinde Zantis Motivrepertoire auch „Strommasten“ als Zeichen einer „fortgeschrittenen“ Zivilisation. Man darf gespannt sein, wohin das in den nächsten Bildern noch führen wird.
Es wirkt, als wolle der Mensch dem ewig gleichen Abläufen der Natur ein kleines: “Hier bin ich aber auch“ entgegensetzen.
Stille und Ruhe sind der Künstlerin eine unbedingte Voraussetzung für ihr Arbeiten. Menschen würden dort nur stören. Auch kein Hase ist im Busch versteckt. Ein einziges Mal habe sie in ein Bild eine Mücke reingezeichnet. Die fand man aber nicht!
Umso schöner die kleine Episode, dass, aufgeschreckt durch die Geräusche, die sie machte als sie sich zum Skizzieren einer verlassen geglaubten Schafshütte hinsetzte, plötzlich viele Schafe rausgelaufen kamen. Man mag sich gerne vorstellen, wessen Schrecken vor dem jeweils anderen größer war.
So kann man sagen, die Dämmerung birgt ihre Abenteuer.
Ein Synonym für den Begriff „Dämmerung“ ist das altmodisch erscheinende Wort „Zwielicht“. „Zwielicht“ drückt auf wunderbare Weise jenen Moment des Übergangs am besten aus. Auch die Ambivalenz, mit der das menschliche Gemüt darauf reagieren kann.
Wer Gerlinde Zantis kennt, weiß, dass diese Bilder kein Ausdruck düsterer Stimmungen sind. Im Gegenteil: sie liebt die Nacht und ganz besonders noch bei Vollmond.
Keine Frage, auch für die Dichter ist die Dämmerung, das Zwielicht, ein faszinierendes Sujet. Dem einen macht sie Angst und er sagt, man solle in der Dämmerung dem besten Freund nicht trauen (Eichendorff), der andere kann ihr alle Schönheit abgewinnen, und das ist Goethe.
Mit Ausnahme eines Sees, den er benennt, scheint er die Bilder von Gerlinde Zantis gut gekannt zu haben:
Dämmerung senkte sich von oben,
Schon ist alle Nähe fern;
Doch zuerst emporgehoben
Holden Lichts der Abendstern!
Alles schwankt ins Ungewisse
Nebel schleichen in die Höh;
Schwarzvertiefte Finsternisse
Widerspiegelnd ruht der See.
Nun am östlichen Bereiche
Ahn ich Mondenglanz und –glut,
Schlanker Weiden Haargezweige
Scherzen auf der nächsten Flut.
Durch bewegter Schatten Spiele
Zittert Lunas Zauberschein,
Und durchs Auge schleicht die Kühle
Sänftigend ins Herz hinein.
Aus: Chinesisch-deutsche Jahres- und Tageszeiten, Johann Wolfgang von Goethe